Rezensionen und Meinungen
aus: Der Tagesspiegel, 26.11.2016
David Mitchells Essay über das Stottern
Das Geschenk des Fluchs
Stottern als linguistisches Kreativitätstraining: Der englische Romancier
David Mitchell erzählt, wie er mit dem Sprechen umzugehen lernte.
Auf der Liste der Behinderungen, die den Zugang zum gesellschaftlichen Leben erschweren, rangiert das Stottern auf den hinteren Plätzen. Es mag Karrieren frühzeitig zerstört und Liebesglück im Keim erstickt haben, doch es gilt auch denen, die darunter leiden, als Herausforderung, die gerade durch ihre Launen weniger kalkulierbar ist als etwa Blindheit. David Mitchell, 1969 in Southport, Lancaster, geboren, ist Englands berühmtester Stotterer. Schon in seinem halb autobiografischen Roman „Der dreizehnte Monat“, acht Jahre vor seinem Welterfolg „Der Wolkenatlas“ (2004), blickte er darauf zurück, was es für einen 13-Jährigen heißt, sich in den Kampf mit der eigenen Sprechflüssigkeit zu stürzen.
In einer Rede auf dem Weltkongress der International Stuttering Association 2013 verdichtet er seine Erfahrungen noch einmal zu einem Essay, der nun, reich illustriert und in orangefarbenes Leinen gebunden, in geradezu anthropologische Dimensionen vorstößt. Vom „Fluch“ zum „Geschenk“, vom Schamgefühl des Kindes zum Stolz des Erwachsenen, der sich als „nicht-stotternden Stotterer“ begreift, nachdem er es endlich aufgegeben hat, sein Problem als „Krebsgeschwür“ anzusehen, „das mit einer Chemotherapie namens Willenskraft bombardiert“ werden muss, zeichnet er seinen Weg zu einem neuen Selbstbewusstsein nach. Die 13 Stationen orientieren sich an den Abschnitten von Wallace Stevens’ berühmtem Gedicht „Thirteen Ways of Looking at a Blackbird“. Dieser Weg verläuft linear und zyklisch zugleich. Immer wieder führt er an den Ausgangspunkt zurück, mit allen Aussprachetricks, eingeübten Ersatzwörtern und Ad-hoc-Synonymen, die ihm zusehends eleganter über die Barriere helfen, sobald sie in Erscheinung tritt. Stottern als linguistisches Kreativitätstraining. Mitchell übertreibt auch nicht, wenn er im neurologischen Mysterium einen Empathiemotor entdeckt und etwas Verbindendes zwischen Menschen, die einander sonst nie begegnet wären. Eine hinreißende Handreichung für Stotterer und – man kann es nicht anders sagen – für alle, die es nun werden wollen.
Gregor Dotzauer
aus: Der Kieselstein - Forum der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V.
39. Jahrgang - Heft 1 – Februar 2017
„Stottern ist …“ – Dreizehn Facetten einer Sprechstörung
Im Demosthenes Verlag neu erschienen ist im Oktober 2016 David Mitchells Buch Dreizehn Arten das Stottern zu betrachten. Der Text beruht auf einer Rede, die Mitchell 2013 auf dem Weltkongress der International Stuttering Association (ISA) in Lunteren (Niederlande) hielt. Das Buch druckt den Vortragstext zweisprachig, in Englisch und Deutsch ab. Übersetzt ist die Rede von Stefan Hoffmann und illustriert von Marion Stelter. Der Autor, ein 1969 geborener britischer, seit seiner Kindheit selbst stotternder renommierter Schriftsteller beantwortet darin in dreizehn Kapiteln die Frage, was alles Stottern für ihn persönlich bedeutet. Seine dreizehn Antworten lauten in Schlagwörtern, die alle den Kapitelüberschriften des Buchs entnommen sind: Stottern ist ein „Fluch“, ein „Hemmschuh“, eine „Quelle für Selbsthass“, ein „Erniedriger“, ein „Geheimnis“, ein „Buch mit sieben Siegeln“, ein „politisches Thema“, ein „Kurs in praktischer Linguistik“, ein Generierungsmoment für „Empathie“, eine „Herausforderung“, ein „Feind“ nicht, sondern ein „Teil“ von einem selbst, eine „Brücke“ und ein „Geschenk“. Mitchell schreibt vorneweg, er habe die dreizehn Kapitel seines Textes „in einer Art vom »Dunklen-ins-Helle«-Reihenfolge sortiert“, und tatsächlich kommen darin typische, mit dem Stottern verbundene herausfordernde und schwierige ebenso wie hoffnungsvolle und lichte Momente zur Sprache. Marion Stelters stark mit Buchstaben und einfachen gegenständlichen Formen arbeitende Bildcollagen haben sich einfühlsam gleichfalls an dieser Reihenfolge orientiert. Beginnen sie im ersten Kapitel mit dominantem Schwarz und darauf folgenden kühlen Grün-, Grau- und Blautönen, so bestimmen am Ende, im letzten Kapitel hellere und warme, an Sommer und Sonne gemahnende Farben, vor allem Orange, Rot und Gelb die Illustrationen. Der Text bringt in pointierter und gekonnter Form Erfahrungen zur Sprache, die vielen stotternden Menschen bekannt sind: so die Hilflosigkeit gegenüber Sprechblockaden oder angesichts der noch immer weitgehend fehlenden eindeutigen wissenschaftlichen Bestimmung der Ursachen des Stotterns. Mitchells Rede vermittelt, dass hier jemand spricht und schreibt, der das Phänomen Stottern sowie alle seine individuellen und sozialen Begleiterscheinungen nicht nur aus eigenen Erfahrungen kennt, sondern der auch einen versöhnlichen Umgang damit gefunden hat, durch den ihm ein relativ freies Sprechen möglich wird. So heißt es in einer kurzen Einleitung: „Glaubt mir, mein dreizehnjähriges stotterndes Ich hätte nie geglaubt, dass ich als Vierundvierzigjähriger in den Niederlanden ein Gedicht vor 200 Zuhörern vortragen würde.“ (S. 21) Doch genau diese Hürde hat Mitchell mit seinem Vortrag genommen, dessen dreizehnteilige Gliederung inspiriert ist von Wallace Stevens Gedicht „Thirteen Ways of Looking at a Blackbird“ („Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten“) – ein Text, den Mitchell zu Beginn rezitiert. Die Entwicklung, die dem Vermögen zur Überwindung der typischen, mit dem Stottern einhergehenden Sprechangst vorausliegt, beschreibt der Autor an späterer Stelle folgendermaßen: „Heutzutage sehe ich mein Stottern als einen Untermieter in meinem Haus. Ein Rausschmiss würde nicht funktionieren, der Untermieter hat ein Wohnrecht und auch noch einen schwarzen Gürtel in Karate. Aber wenn ich den Untermieter mit Respekt behandele oder – noch besser – mit Zuneigung und Humor, dann gibt er mir Respekt zurück und erlaubt mir, Reden zu halten wie diese […], ohne meine Sprache zu sehr oder zu oft zu blockieren.“ (S. 84) Nach derzeitigem Wissensstand ist das Stottern Erwachsener in der Regel nicht heilbar, dass es aber beeinflussbar ist, dass man mit ihm freundlicher umzugehen lernen kann, das zeigt Mitchells Vortrag auf eindrückliche Weise und bildet seine lichten Momente. Für stotternde Menschen beschreibt das Buch also einen von vielen möglichen Wegen, wie man zu einem unbelasteteren stotternden Sprechen finden kann; nicht-stotternden Menschen kann es vermitteln, welche Gefühle mit dem Stottern oft und typischerweise einhergehen. Nicht jeder wird sein Stottern als ein „Geschenk“ betrachten können, wie Mitchell es im letzten Kapitel von einem Zuhörer berichtet, der ihn nach seinem Vortrag in Holland ansprach. Doch diese mit einem orangefarbenen Leineneinband und den Illustrationen rundum liebevoll gestaltete Neuerscheinung eignet sich ganz hervorragend zum Verschenken.
Dr. Phil. Filippo Smerilli, Berlin
aus: Forum Logopädie
31. Jahrgang, Heft 5, September 2017
... Ich empfehle dieses Buch Therapeuten und Fachpersonal, die mit Stotternden zusammen arbeiten, da sie durch die Lektüre einen seltenen tiefen Einblick in die komplexe Gefühlswelt eines Menschen bekommen, der bereit ist, sein Erlebtes wortgewandt und pointiert mit anderen zu teilen. Ebenso empfehle ich es jugendlichen und erwachsenen Patienten, da sie in Mitchell ein Vorbild und einen Mutmacher finden können, ohne dass er die oft anstrengenden und frustrierenden Seiten, die das Stottern mit sich bringt, außer Acht lässt.
Julia Nieslony, Köln
Lesermeinung
An die Illustratorin Marion Stelter
„Die von Dir verwendete Collage-Technik bringt das eigentümlich „Verrückte", im Sinn von "Neben-sich-stehen“, des Stotterns auf eine besondere Art und Weise zum Ausdruck!
Darüber hinaus strahlt für mich das Spielerische, das in die Darstellung eingegangen ist, viel Lebenslust aus.
Ich hoffe sehr, das Deine Botschaften, die Du damit verbindest, viele stotternde Menschen erreichen.“
Jürgen Kaulfuß, Berlin