Vorwort
Ich war gebeten worden, einen Vortrag in Innsbruck zu halten. Natürlich zum Thema Stottern. Früher, als ich noch Kind war und „Innsbruck, ich muss Dich lassen“ sang, hätte ich mir - angesichts meines eigenen Stotterns - nie vorstellen können, einmal leibhaftig im größten Saal des Innsbrucker Kongresszentrums zu stehen und vom Podium herab laut und unverzagt die Stimme zu einem Vortrag zu erheben. Heute, als Erwachsener traue ich mir das zu; Lampenfieber darf sein. Und das Stottern begleitet mich weiterhin- nun allerdings als Thema und Arbeitsgegenstand. Ich gab Inge Frühwirth also eine Zusage und versprach meine Anreise für den Oktober. Doch was sollte ich Neues zum Stottern vortragen? War nicht alles schon einmal gesagt worden? Ist es nicht ausgesprochen ärgerlich, wenn auf Kongressen Altbekanntes immer wieder in moderne Gewänder gehüllt und als neue Erkenntnis ausgegeben wird? Wenn kluge Wissenschaftler, einer nach dem anderen am Mikrofon stehen und jeder behauptet, seine eigene Methode sei die effektivste. Das kann doch gar nicht gehen! Oder doch? Kann in der Stottertherapie der Erfolg unterschiedlicher Methoden auf gleichen Grundlagen beruhen? Gibt es zugrundeliegende Wirkfaktoren, die den verschiedenen Methoden gemeinsam sind? Und wenn ja: was ist dann das Erfolgsrezept das z.B. beim Hausdörfer-Fan ebenso wirkt wie beim Nutzer von Kieselsteinen? Die sollen doch auch geholfen haben – bei Demosthenes, einem der größten griechischen Redner seiner Zeit, der früher einmal selbst ein Stotterer war. Er hat den Mund vollgenommen, anfangs mit Kieseln, später mit großartigen Reden. Waren seine Steine die sagenumwobenen Steine des Weisen? Oder nur die Steine des Anstoßes?
Gedanken wie diese gingen mir damals durch den Kopf, als ich nach einem geeigneten Thema für meinen Vortrag suchte. Ich begann mich mit Demosthenes zu beschäftigen und wurde neugierig darauf, was , „Erfolg“ in Stottertherapien ausmacht. So entstand ein Vortrag über Demosthenes und seine Kiesel, den ich in Innsbruck halten konnte. Die Steine, selbst so schwer sie sind, hatte ich aus Berlin mitgebracht und auf Tellern (in silbriger Alufolie eingeschlagen) präsentiert. Steine, die ich mit meiner Tochter Lisa bei fröhlichen Strandspaziergängen gesammelt hatte. Ansteckend war ihre Begeisterung, wenn sie sich immer wieder aufs Neue mit freudigem Jauchzen am Ufer niederließ, um glänzende Zaubersteine den zurückgleitenden Wellen zu entreißen.
Als ich Innsbruck verließ war mir klar. dass ich mich weiter mit Demosthenes beschäftigen würde. In der Therapiegruppe mit jungen türkischen Berlinerinnen waren die Kiesel schon zu einer Quelle großen Staunens geworden. Nalan sprach plötzlich symptomfrei, ausgerechnet sie, die bisher doch nie ohne Stottern zu hören war. In der Toskana, bei 40 Grad nachmittäglicher Schattenhitze, haben sich dann liebe Freunde tränenreiche Heiterkeitsausbrüche geleistet angesichts meiner pausbackigen Kieselstein-Sprechübungen, unterbrochen von aufgeregten Schnappschüssen und warnenden Rufen „bloß nicht verschlucken!" und „nicht so viele, nicht so viele auf einmal." Und auch die frühe Mahnung meiner Großmutter, „mit vollem Munde spricht man nicht!“, konnte mich nicht umstimmen. (Sie dürfte damals noch nicht gewusst haben, dass beim Stottern alles anders ist.) Ich war mir sicher: Auch die Neue Welt sollte von meiner Demosthenes-Geschichte erfahren. Und so überarbeitete ich das Manuskript noch einmal, packte die Gelegenheit beim Schopfe und reiste nach San Francisco, um Demosthenes beim 3. Weltkongress der Selbsthilfebewegungen stotternder Menschen auferstehen zu lassen und ein ganzes Dutzend europäischer Kieselsteine zur bleibenden Erinnerung stotternden Mündern und neugierigen Händen unterschiedlicher Nationalität zu überlassen. Ja, Klappern gehört zum Handwerk! Auch das Klappern der Kiesel im Mund. Die Kiesel berühren bei jeder Mundbewegung die Zähne, sie klicken und klacken, fabrizieren vieltönige Geräusche, die zum flüssigen Sprechen gehören dem Handwerk des Glücklichen, der das Stottern meistert.
Der Name „Demosthenes“ ist mir seit Jahren immer wieder aufs Neue in der Literatur zum Stottern begegnet, besonders lautstark aber 1986, als die Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe das ,,Institut für Selbsthilfe, Therapieförderung und Information“ gründete und ihm den Namen „Demosthenes-Institut“ gab. Aber nicht nur Demosthene's Name hat Eingang in die deutsche Selbsthilfebewegung gefunden, vor allem Stottern ins Rollen bringen die „Utensilien“ des Demosthenes gehen all monatlich ins Land: Kenner schätzen die Hefte der Leser-Zeitschrift DER KIESELSTEIN, das Sprachrohr der Stotterer Selbsthilfegruppen und der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe e.V.. So liegt es für mich auf der Hand, das vorliegende Buch in erste Linie denjenigen Menschen ans Herz zu legen, die schon in Berührung mit Demosthenes gekommen sind, bewusst oder unbewusst, die eine Beziehung zum Stottern geknüpft haben, freiwillig oder unfreiwillig, und die sich mit der Entfaltung kommunikativer Fähigkeiten auseinandersetzen. Manche tun dies im Rahmen eines persönlichen Veränderungsprozesses, andere im Rahmen beruflicher Arbeitszusammenhänge.
Ohne meine stotternden Klienten hätte ich das Buch nie schreiben können. Ohne meine Eltern, die mir Kraft und Phantasie auf meinen Lebensweg mitgegeben haben, auch nicht. Es gab viele Menschen, die in den letzten Jahren verstanden haben, was ich am Beispiel von Demosthenes ausdrücken wollte. Das hat mir Mut gemacht, weiter am Text zu arbeiten und auch noch das Thema Rückfall einzubinden, das für langjährige Stotternde von so großer Bedeutung ist. Es gab Silke Gahleitner, die hervorragende Arbeit am Schreibcomputer leistete. Und es gab Harald Strätz: seine Kritik, seine literarischen Anregungen und inhaltlichen Veränderungsvorschläge haben zu einer sehr deutlichen Bereicherung des Manuskripts geführt. Dank seines Einsatzes im Leitungsgremium des Demosthenes-Instituts wurde die Veröffentlichung für den Verlag der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe vorgeschlagen. Ari Köpf, der Geschäftsführer dieser Vereinigung, hat dann mit Geduld und Klarheit die Verlagsverhandlungen über die Bühne gebracht. Und Jürgen Kellner hat in seiner unvergleichlichen Art, präzise, ausführlich und gut begründet, eine ganze Reihe von Verbesserungsanregungen einfühlsam unterbreitet, so dass ich gar nicht umhin kam, seine Überlegungen einfließen zu lassen. Und wäre Friedrich Hartmann nicht gewesen - das Buch wäre nur halb so schön geworden: Seine Zeichnungen sind eine Augenweide, sie bringen Zwischentöne zum Erklingen und beschwingen das Lesen.
Ihnen allen sei ganzherzlich gedankt!
Wolfgang Wendlandt